Sonntag, 12. Mai 2013

Fegefeuer - Sofi Oksanen

Cover: Fegefeuer

Nachdem Estland bis ins 13. Jahrhundert  zurück von verschiedenen Ländern beherrscht war, erlangte es erst im  Jahr 1918 seine Unabhängigkeit. An dieser konnte sich das Land allerdings nur bis 1940 erfreuen. Dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 folgend, hatte die Sowjetunion 1940 die Republiken Litauen, Lettland und Estland besetzt. 1941 okkupierte das nationalsozialistische Deutschland das Baltikum und richtete seine Vernichtungpolitik vor allem gegen die jüdischen und kommunistischen Bürger. 1944 kehrten die Sowjets zurück. Eine zweite Verhaftungwelle gegen angebliche Konterrevolutionäre, Nationalisten und sozialgefährliche Elemente setzte ein. Was folgte, waren Deportationen in den Gulag, Verfolgungen und Repressalien gegen jene, die dem sowjetischen Regime ablehnend gegenüberstanden.

In ihrem preisgekrönten Roman "Fegefeuer" hat die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen die Geschichte Estlands während des zweiten Weltkrieges thematisiert. Die sozialen und moralischen Verwüstungen die der Kommunismus in den baltischen Staaten hinterlassen hat, die Traumatisierung einer ganzen Generation, verpackt die Autorin ungemein spannend in eine Familiengeschichte im Handlungszeitraum von 1939 bis 1992.

West-Estland 1992. Aliide Truu findet die in ihrem Garten liegende, geschundene, halbtote Zara. Aliide lebt alleine und zurückgezogen in ihrem Bauernhaus. Ihr Mann ist schon lange tot und ihre Tochter lebt seit vielen Jahren in Finnland. Das Leben und die Kriegserlebnisse haben aus ihr eine harte und misstrauische Frau gemacht. Unwillig, denn sie möchte mit dem Leben da draußen nichts mehr zu tun haben, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung hinunter und nimmt Zara in ihr Haus. Nicht ahnend, dass sich mit diesem Mädchen der Kreis ihrer Familientragödie schließt und dass Zara nicht durch Zufall in Aliides Hof gelandet ist.

Zara ist ein junges Mädchen aus Wladiwostok, das sich, den Versprechungen einer Freundin glaubend, 1991 nach Berlin locken lässt um dort zu arbeiten und Geld zu sparen. Denn später möchte sie Medizin studieren. Doch sie landet in der Zwangsprostitution. In Tallinn, wo Zara an den Chef der Zuhälter weitergegeben werden soll, gelingt ihr schließlich die Flucht.
Oksanen mutet dem Leser die Brutalität die in diesem Milieu herrscht, ungeschönt zu. 

Schritt für Schritt, mit Hilfe von Rückblenden und Tagebuch-Exzerpten beginnt Oksana die familiäre Verbindung, die zwischen den beiden Frauen besteht, zu enthüllen.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1936. Bei einem Spaziergang lernen die beiden Schwestern Ingel und Aliide, den Bauern Hans Eerikssohn Pekk kennen. Beide verlieben sich ihn ihn. Doch Hans hat nur Augen für Ingel, die er auch heiratet. Aliides Leben ist von nun an von der unerwiderten Liebe zu Hans bestimmt. Während des Krieges kämpft Hans auf Seiten der Partisanen für die Freiheit Estlands. Um ihn zu schützen, verstecken sie ihn in einer kleinen Kammer in ihrem Haus. Weil sie verdächtigt werden Widerstandskämpfer zu unterstützen, werden Aliide, Ingel und deren Tochter Linda mehrmals verhört und vergewaltigt.

Schwer traumatisiert arrangiert sich Aliide mit dem herrschenden System und heiratet den strammen Kommunisten Martin. Sie ist nun ein funktionierendes Rädchen im Getriebe des Sowjetregimes.

Durch die Heirat mit Martin hatte sie eine Art Garantie für ihre Sicherheit bekommen. Nun war sie eine anständige Frau und niemand würde jemals behaupten können, in den Verhören sei etwas geschehen, wenn sie mit einem Mann wie Martin verheiratet war.
Sie erkannte auf der Straße Frauen, denen sie anmerkte, dass ihnen etwas Ähnliches widerfahren war. Aus jeder zitternden Hand schloss sie: auch die. Aus jedem Erschrecken, das auf den Ruf eines russischen Soldaten folgte, aus jedem Zusammenzucken, das vom Geräusch trampelnder Stiefel ausgelöst wurde. Auch die?

Diese Szenen gehörten für mich zu den erschütterndsten in dem Roman. Zu sehr erinnerten sie mich an die Berichte von Frauen über die Kriegsgreuel im ehemaligen Jugoslawien. 

Doch auch  wenn sich Aliide nun sicher fühlt, ist da noch immer die unerfüllte Liebe zu Hans. Nachdem sie Ingel und deren Tochter Linda denunziert, werden die beiden nach Wladiwostok deportiert und Aliide wähnt sich nach so langer Zeit am Ziel ihrer Träume. Nun endlich würde ihr Hans, der sich noch immer im Haus versteckt hält, alleine gehören. Doch ihre Hoffnung erfüllt sich nicht und sie lädt neuerlich Schuld auf sich.

Diese beiden, auf unterschiedliche Weise traumatisierten Frauen treffen nun in ihrer Angst und ihrem Misstrauen aufeinander. Zara, auf der Flucht vor ihren Zuhältern und gleichzeitig auf der Suche nach ihren Wurzeln, die sie hier zu finden hofft. Und Aliide, die plötzlich wieder mit ihrer lange verdrängten Vergangenheit konfrontiert ist. In einem furiosen Finale endet schließlich der letzte Akt dieser Familientragödie.

Dem Leser wird in diesem Buch nicht erspart. Stakkatoartig werden die grausamen Bilder hinausgeschleudert, treffen auf die Haut, haken sich fest, kriechen in Herz und  Gehirn. Gewalt und Niedertracht prasseln ungeschönt hernieder. Dabei beginnt alles so scheinbar harmlos, mit dem Versuch Aliides, eine ungewöhnlich große Schmeißfliege mit Hilfe einer Fliegenklatsche zu töten. Doch nichts in diesem wortgewaltigen Roman ist harmlos. Jedes Detail, auch die Fliege, die Aliide mit kalter Wut zu töten versucht, jede Andeutung ist dramaturgisch an die richtige Stelle gesetzt und findet im Verlauf der Geschichte seine Auflösung. Ob es um das Einkochen von Gemüse geht, Steine die ans Fenster geworfen werden, tote Tiere auf Aliides Hof, oder die Sprachlosigkeit von Zaras Mutter Linda. Alles folgt einer geschickt eingesetzten Dramaturgie.

In klarer, knapper Sprache baut Oksanen eine unglaubliche szenische  Dichte auf und vermeidet dabei jede Form von Pathos. Schnörkellos zeigt sie auf, wie sich die Spirale der Gewalt unaufhörlich weiterdreht, wie Frauen, und auch die Gesellschaft, durch die Brutalität der Männer verändert werden. Gleichzeitig zeichnet sie auf eindringliche Weise und hohem literarischen Niveau, die beschämenden historischen Fakten des estnischen Volkes aus der Perspektive einer durch die Geschichte zerstörten Familie. 

Mit "Fegefeuer" ist Sofi Oksanen ein grandioser Roman gelungen. Ein Buch, das ich so schnell nicht vergessen werde. Absolut empfehlenswert.



Sofi Oksanen
Fegefeuer
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
April 2012


Über die Autorin:
Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Mit ihrem dritten Roman "Fegefeuer" gelang ihr der literarische Durchbruch. "Fegefeuer" stand in Finnland monatelang auf Platz eins der Bestsellerliste, der Roman wurde in 32 Sprachen übersetzt. Sofi Oksanen erhielt zahlreiche Literaturpreise.





 

   

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