Ingrid J. Poljak lebt in Wien, wo sie Architektur studierte und über 30 Jahre als Bau- und Projektleiterin arbeitete. Nebenberuflich arbeitete sie als Grafikerin. "Bildermord" ist ihr erster Roman. Die Autorin hat eine eigene Homepage.
1) Wann entstand bei Ihnen der Wunsch, Schriftsteller zu werden?
Eigentlich in Ermangelung guter Jugendbücher in meiner Frühpubertät in den 50er Jahren. Als ich dreizehn Jahre alt war, fand ich auf einem Dachboden eine an den Rändern abgestoßene, aus der Vorkriegszeit stammende Paperback-Ausgabe des Romans "Der Geisterseher" von Friedrich Schiller in der Überarbeitung von Hanns Heinz Ewers. Dieser, hauptsächlich in altmodischer Briefform geschriebene Roman wurde mein Kultbuch. So sehr, dass es meine Mutter in schwarzem Leinen mit Golddruck neu binden ließ. Um 100 Schilling, das war damals für uns viel Geld. Statt weiterhin nach Büchern zu suchen, die mir gefallen hätten, begann ich selber, hauptsächlich in der Schule unter der Bank, Romane zu schreiben, in karierte A5-Hefte, alle fünf Millimeter eine Zeile. Ich bin trotzdem nicht Schriftstellerin geworden, aber ich habe in meiner Freizeit immer wieder Romane zu schreiben begonnen, und habe viele dieser Fragmente in mein Pensionsalter herüber retten können. Jetzt versuche ich, all diese Geschichten aufzuarbeiten bzw. die Themen und Ideen in neue Inhalte und Formen zu bringen.
2) Haben Sie Lieblingsautoren? Literarische Vorbilder?
Von den Klassikern Shakespeare, ETA Hoffmann, Dostojewskij.
Von den "modernen" Schriftstellern Friedrich Dürrenmatt, Patricia Highsmith, Minette Walters, Umberto Eco, um nur die Wichtigsten zu nennen.
3) Welche Bücher lesen Sie zur Zeit?
"Die Süße des Lebens" von Paulus Hochgatterer und einige Fachbücher über Psychologie und Psychoanalyse.
4) Wie sind Sie auf die Idee zu dem Roman "Bildermord" gekommen und wie haben Sie ihn entwickelt?
Ursprünglich war es eine Kurzgeschichte über einen Comiczeichner, der ein Eifersuchtsattentat begeht, weil seine für ihn Modell stehende Ehefrau (als Comicfigur) auch von anderen Männern verehrt wird und er glaubt, dass sie ihn betrügt. Der Roman ist praktisch die Fortsetzung dieser Geschichte und hat sich eigentlich von selbst entwickelt. Der Protagonist hat mit Hilfe eines Freundes inzwischen eine zweite Karriere begonnen. Das Thema waren "Täuschung und Enttäuschung", und dazu haben "Hoffmanns Erzählungen" einen passenden Hintergrund abgegeben. Der Schauplatz Salzburg hat sich ergeben, weil ich dort das Festspielhaus und die Bühnentechnik am besten kenne bzw. die Möglichkeit hatte, gründlich zu recherchieren. Außerdem ist Salzburg meine Lieblingsstadt.
5) Welchen Rat würden Sie jemanden geben, der mit dem Schreiben beginnt?
Einer Idee treu zu bleiben und dann Geduld, Geduld, Geduld.
Herzlichen Dank an Ingrid Poljak für die Beantwortung meiner Fragen.
Mord und Kunstdiebstahl an der Salzach
Im großen Festspielhaus in Salzburg ist der Teufel los.In 19 Tagen findet die Premiere der Neuinszenierung von Hoffmanns Erzählungen statt und Henri Devolier, der Kulissenmaler, befindet sich plötzlich im Mittelpunkt eines mörderischen Geschehens.
Henri war ein berühmter Zeichner erotischer Comics, für die ihm seine Frau, Valentina, Modell stand. Bis er sie in einem Anfall von Eifersucht schwer misshandelte und dafür ins Gefängnis musste. Aus der Haft entlassen, zog er sich zurück und fand in Salzburg Arbeit als Kulissenmaler. In seiner Freizeit malt er immer noch Valentina, auch wenn er die Bilder nicht verkauft.
Mit der Figur des Henri beweist die Autorin sehr viel Mut. Ein Mann der seine Frau verprügelt, eignet sich gemeinhin ja nicht als Sympathieträger. Lange Zeit ist auch nicht klar, ist er Opfer, reumütiger Sünder, ist er noch immer gewaltbereit, oder vielleicht doch ein Mörder? Bei der Zeichnung der Figuren ist das Interesse der Autorin für Psychologie und Psychoanalyse deutlich zu erkennen. Keine ihrer Figuren ist schwarz oder weiß, gut oder böse. Die Charaktere sind sehr komplex und spröde gezeichnet. Man muss sich beim Lesen ganz bewusst darauf einlassen, dass man für die Figuren nur sehr langsam Sympathie entwickelt.
Nun, wo Henris Leben endlich in ruhigen Bahnen verläuft, wird seine Nachbarin, Frau Gmachl ermordet. Der Verdacht fällt natürlich auf Henri, nachdem die Polizei herausgefunden hat, dass er vorbestraft ist. Gleichzeitig bekommt er von einem Unbekannten das unmoralische Angebot, ein Bild von Egon Schiele zu fälschen und im Theater wird er von einem jungen Kollegen gemobbt.
Als wäre das noch nicht genug, kommt auch seine Exfrau Valentina ins Spiel. Nicht ahnend, dass Henri jetzt in Salzburg lebt und arbeitet, hat sie das Angebot, kurzfristig als Regiassistentin einzuspringen angenommen und begegnet nun Henri. Der ist davon nicht wirklich begeistert, denn abgesehen davon, dass er nach Salzburg gezogen ist, um ihr aus dem Weg zu gehen, muss er nun, zusätzlich zum Premierenstress, auch noch alle Bühenenbilder mit den Porträts von Hoffmanns Geliebten übermalen. Die Puppe, die Geliebte, die Hure, alle tragen sie die Züge Valentinas, die einen Wutanfall bekommt, als sie wieder mit Henris Besessenheit von ihr konfrontiert ist.
Henri kämpft sich durch die Tage, ist konfrontiert mit Sabotageakten auf der Festspielbühne, mit Mordfällen, die man ihm unterschieben will und vermeintlichen Freunden, denen er plötzlich nicht mehr trauen kann. Er fühlt sich immer mehr von den Ereignissen überrollt und weiß nicht, wie er sich gegen all die Anschuldigungen wehren soll. Bis es während der Premiere zu einem überraschenden Showdown kommt und die Geschichte mit einer unerwarteten Wendung endet. Wobei das Motiv ein wenig deutlicher herausgearbeitet hätte werden können.
Der Debütroman von Ingrid J. Poljak ist ein spannungsgeladener, temporeicher und ungewöhnlicher Krimi. Ungewöhnlich nicht nur wegen dem Handlungsort, den sie hinter der Bühne angesiedelt hat, sondern vor allem wegen der nicht leicht zu durchschauenden, zum Teil skurrilen Protagonisten. Erfreulich war für mich auch die Absage der Autorin, auf die, für dieses Genre üblichen, bluttriefenden Details, ohne dass die Spannung darunter leiden würde.
Ein lesenswerter Krimi für all jene, die es nicht blutig und brutal wollen und die an psychologisch interessant dargestellten Figuren Freude haben.
Ingrid J. Poljak lebt in Wien, wo sie Architektur studierte und lange Zeit als Bau- und Projektleiterin sowie nebenberuflich als Grafikerin gearbeitet hat. Jetzt schreibt sie Krimis, Thriller und Kurzgeschichten.
Ingrid J. Poljak
Bildermord
2012, Berenkamp Verlag
Gestern abend habe ich es endlich geschafft, zum ersten Mal an einer Lesung von Marlen Schachinger teilzunehmen. Ich habe mir schon so oft vorgenommen, etwas von ihr zu lesen, da ich ja schon durch mehrere Artikel auf sie aufmerksam wurde. Aber immer kam etwas dazwischen und mein SUB ist eh schon so groß und ..., na ja, ihr wisst sicher, was ich meine. Bis ich vor einigen Tagen in Evas Literaturgeflüster las, dass sie im Literaturbuffet ihren neuen Roman vorstellt. So hatte ich gestern das Vergnügen die Autorin endlich kennenzulernen. Und was soll ich sagen, ich bin schwer beeindruckt.
Der neue Roman handelt von zwei Frauen. Marie schon weit über achtzig und Lea, eine junge Dokumentarfilmerin, Mitte dreissig. Zwei Frauen, die sich durch Zufall kennen lernen und unterschiedlicher nicht sein können. Marie, voller Lebensfreude, Abenteuerlust, das Positive sehend, Lea, eine Migrantin aus Sarajevo, eine Pessimistin, deren Glas immer halb leer ist. Die Kernthemen der Geschichte sind Lebensfreude, Freundschaften über Generationsgrenzen, die Aufarbeitung der gleichgeschlechtlichen Liebe während der NS-Zeit und das österreichische Beschweigen dieses Themas, das bis heute anhält. Im Standard gibt es dazu einen interessanten Artikel. Ich finde es beschämend, dass Österreich nicht in der Lage ist, seine braune Vergangenheit sauber aufzuarbeiten. Aber vermutlich ist es, wie so oft, eine Frage des Wollens. Deutschland ist da ja deutlich weiter.
Aber zurück zum Buch. Mit jedem Kapitel, das Marlen Schachinger für die Lesung auswählte, zog sie die Zuhörer in ihren Bann. Während sie las, war es mucksmäuschenstill. Kein Räuspern, kein Gläser klirren, kein ungeduldiges Scharren mit den Füßen, wie man es sonst bei Lesungen gerne hört. Mit ihrer klaren, schnörkellosen Sprache vermeidet sie jedes Pathos und larmoyante Klischeebefriedigung. Nach der Lesung gab es dann noch eine angeregte Diskussion zwischen der Autorin und den Gästen, die deutlich zeigte, wie interessiert die Menschen an diesen Themen sind.
Ich muss ja wohl nicht extra erwähnen, dass mein SUB mal wieder gewachsen ist. .
Marlen Schachinger, geboren 1970 in Oberösterreich, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie und Ästhetik. Für ihre bisherigen Werke (Kurzgeschichten, Romane, Hörstücke, Lyrik sowie Sachbücher aus dem Fachbereich HerStory) erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise. Sie lebt und arbeitet in Niederösterreich und Wien.
In der Samstagausgabe der NZZ schreibt Roman Bucheli einen sehr interessanten Artikel zum Thema Literaturkritik im Zuge der Zeitungskrise Ein Leben nach dem Papier
Die Literaturkritik war einst eine Paradedisziplin des Feuilettons. Seit längerem jedoch droht sie im Zuge der Zeitungskrise und des damit verbundenen medialen Wandels marginalisiert zu werden.
So beginnt der Artikel, in dem er aufzeigt, welche Auswirkungen der Sparzwang und der damit einhergehende Schrumpfungsprozess beim Umfang der Printmedien, auf den Bereich der Literaturkritik hat.
Das Problem ist ja nicht einfach dadurch zu lösen, dass gedruckte Inhalte eins zu eins ins Netz gestellt
werden. Es geht vielmehr darum, zu erkennen, dass der digitale Leser ein
anderes Leseverhalten hat als der Leser eines Printmediums. Ist das
nicht etwas, mit dem sich wir Literaturblogger, ja auch ich zähle mich
dazu, auch wenn sich mein Blog noch im Anfangsstadium befindet, ständig
beschäftigen?
Für solche anspruchsvollen Texte werden auch (und vielleicht gerade) im
digitalen Zeitalter Raum und Bedürfnis gegeben sein. Das Digitale muss
darum nicht der Totengräber der analogen Kritik sein, es könnte vielmehr
Plattform werden für eine kritisch-analytische Kompetenz, wie es sie
seit Lessing immer wieder gegeben hat. Dafür sind offene und freie
Denkräume zu schaffen, wo sich die Kunst des Lesens mit Streitlust und
der Deutungswille mit dem Eros des Schreibens verbindet.
Offensichtlich erkennt man nun auch im Bereich der Printmedien, dass anspruchsvolle Literaturkritik im digitalen Medium anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Vielleicht wird auch irgendwann auf die Bedeutung guter Literaturblogs, von denen es so einige gibt, hingewiesen - die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Ich wünsch euch einen schönen Wochenbeginn!
Nachdem Estland bis ins 13. Jahrhundert zurück von verschiedenen Ländern beherrscht war, erlangte es erst im Jahr 1918 seine Unabhängigkeit. An dieser konnte sich das Land allerdings nur bis 1940 erfreuen. Dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 folgend, hatte die Sowjetunion 1940 die Republiken Litauen, Lettland und Estland besetzt. 1941 okkupierte das nationalsozialistische Deutschland das Baltikum und richtete seine Vernichtungpolitik vor allem gegen die jüdischen und kommunistischen Bürger. 1944 kehrten die Sowjets zurück. Eine zweite Verhaftungwelle gegen angebliche Konterrevolutionäre, Nationalisten und sozialgefährliche Elemente setzte ein. Was folgte, waren Deportationen in den Gulag, Verfolgungen und Repressalien gegen jene, die dem sowjetischen Regime ablehnend gegenüberstanden.
In ihrem preisgekrönten Roman "Fegefeuer" hat die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen die Geschichte Estlands während des zweiten Weltkrieges thematisiert. Die sozialen und moralischen Verwüstungen die der Kommunismus in den baltischen Staaten hinterlassen hat, die Traumatisierung einer ganzen Generation, verpackt die Autorin ungemein spannend in eine Familiengeschichte im Handlungszeitraum von 1939 bis 1992.
West-Estland 1992. Aliide Truu findet die in ihrem Garten liegende, geschundene, halbtote Zara. Aliide lebt alleine und zurückgezogen in ihrem Bauernhaus. Ihr Mann ist schon lange tot und ihre Tochter lebt seit vielen Jahren in Finnland. Das Leben und die Kriegserlebnisse haben aus ihr eine harte und misstrauische Frau gemacht. Unwillig, denn sie möchte mit dem Leben da draußen nichts mehr zu tun haben, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung hinunter und nimmt Zara in ihr Haus. Nicht ahnend, dass sich mit diesem Mädchen der Kreis ihrer Familientragödie schließt und dass Zara nicht durch Zufall in Aliides Hof gelandet ist.
Zara ist ein junges Mädchen aus Wladiwostok, das sich, den Versprechungen einer Freundin glaubend, 1991 nach Berlin locken lässt um dort zu arbeiten und Geld zu sparen. Denn später möchte sie Medizin studieren. Doch sie landet in der Zwangsprostitution. In Tallinn, wo Zara an den Chef der Zuhälter weitergegeben werden soll, gelingt ihr schließlich die Flucht.
Oksanen mutet dem Leser die Brutalität die in diesem Milieu herrscht, ungeschönt zu.
Schritt für Schritt, mit Hilfe von Rückblenden und Tagebuch-Exzerpten beginnt Oksana die familiäre Verbindung, die zwischen den beiden Frauen besteht, zu enthüllen.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1936. Bei einem Spaziergang lernen die beiden Schwestern Ingel und Aliide, den Bauern Hans Eerikssohn Pekk kennen. Beide verlieben sich ihn ihn. Doch Hans hat nur Augen für Ingel, die er auch heiratet. Aliides Leben ist von nun an von der unerwiderten Liebe zu Hans bestimmt. Während des Krieges kämpft Hans auf Seiten der Partisanen für die Freiheit Estlands. Um ihn zu schützen, verstecken sie ihn in einer kleinen Kammer in ihrem Haus. Weil sie verdächtigt werden Widerstandskämpfer zu unterstützen, werden Aliide, Ingel und deren Tochter Linda mehrmals verhört und vergewaltigt.
Schwer traumatisiert arrangiert sich Aliide mit dem herrschenden System und heiratet den strammen Kommunisten Martin. Sie ist nun ein funktionierendes Rädchen im Getriebe des Sowjetregimes.
Durch die Heirat mit Martin hatte sie eine Art Garantie für ihre Sicherheit bekommen. Nun war sie eine anständige Frau und niemand würde jemals behaupten können, in den Verhören sei etwas geschehen, wenn sie mit einem Mann wie Martin verheiratet war.
Sie erkannte auf der Straße Frauen, denen sie anmerkte, dass ihnen etwas Ähnliches widerfahren war. Aus jeder zitternden Hand schloss sie: auch die. Aus jedem Erschrecken, das auf den Ruf eines russischen Soldaten folgte, aus jedem Zusammenzucken, das vom Geräusch trampelnder Stiefel ausgelöst wurde. Auch die?
Diese Szenen gehörten für mich zu den erschütterndsten in dem Roman. Zu sehr erinnerten sie mich an die Berichte von Frauen über die Kriegsgreuel im ehemaligen Jugoslawien.
Doch auch wenn sich Aliide nun sicher fühlt, ist da noch immer die unerfüllte Liebe zu Hans. Nachdem sie Ingel und deren Tochter Linda denunziert, werden die beiden nach Wladiwostok deportiert und Aliide wähnt sich nach so langer Zeit am Ziel ihrer Träume. Nun endlich würde ihr Hans, der sich noch immer im Haus versteckt hält, alleine gehören. Doch ihre Hoffnung erfüllt sich nicht und sie lädt neuerlich Schuld auf sich.
Diese beiden, auf unterschiedliche Weise traumatisierten Frauen treffen nun in ihrer Angst und ihrem Misstrauen aufeinander. Zara, auf der Flucht vor ihren Zuhältern und gleichzeitig auf der Suche nach ihren Wurzeln, die sie hier zu finden hofft. Und Aliide, die plötzlich wieder mit ihrer lange verdrängten Vergangenheit konfrontiert ist. In einem furiosen Finale endet schließlich der letzte Akt dieser Familientragödie.
Dem Leser wird in diesem Buch nicht erspart. Stakkatoartig werden die grausamen Bilder hinausgeschleudert, treffen auf die Haut, haken sich fest, kriechen in Herz und Gehirn. Gewalt und Niedertracht prasseln ungeschönt hernieder. Dabei beginnt alles so scheinbar harmlos, mit dem Versuch Aliides, eine ungewöhnlich große Schmeißfliege mit Hilfe einer Fliegenklatsche zu töten. Doch nichts in diesem wortgewaltigen Roman ist harmlos. Jedes Detail, auch die Fliege, die Aliide mit kalter Wut zu töten versucht, jede Andeutung ist dramaturgisch an die richtige Stelle gesetzt und findet im Verlauf der Geschichte seine Auflösung. Ob es um das Einkochen von Gemüse geht, Steine die ans Fenster geworfen werden, tote Tiere auf Aliides Hof, oder die Sprachlosigkeit von Zaras Mutter Linda. Alles folgt einer geschickt eingesetzten Dramaturgie.
In klarer, knapper Sprache baut Oksanen eine unglaubliche szenische Dichte auf und vermeidet dabei jede Form von Pathos. Schnörkellos zeigt sie auf, wie sich die Spirale der Gewalt unaufhörlich weiterdreht, wie Frauen, und auch die Gesellschaft, durch die Brutalität der Männer verändert werden. Gleichzeitig zeichnet sie auf eindringliche Weise und hohem literarischen Niveau, die beschämenden historischen Fakten des estnischen Volkes aus der Perspektive einer durch die Geschichte zerstörten Familie.
Mit "Fegefeuer" ist Sofi Oksanen ein grandioser Roman gelungen. Ein Buch, das ich so schnell nicht vergessen werde. Absolut empfehlenswert.
Sofi Oksanen
Fegefeuer
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
April 2012
Über die Autorin:
Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Mit ihrem dritten Roman "Fegefeuer" gelang ihr der literarische Durchbruch. "Fegefeuer" stand in Finnland monatelang auf Platz eins der Bestsellerliste, der Roman wurde in 32 Sprachen übersetzt. Sofi Oksanen erhielt zahlreiche Literaturpreise.